Gabriel lebt schon seit fast drei Jahren in Wels. Er ist aus Afghanistan geflüchtet, weil sein Leben bedroht war. Gabriel ist ein junger Mann, Anfang 20. Er hat sich den Ort nicht ausgesucht, wo er gelandet ist. Aber jetzt ist er hier und er möchte dazugehören.

Er hat mehrere Deutschkurse besucht und den Hauptschulabschluss nachgeholt, damit er einen Beruf erlernen kann. Bevor sein Asylverfahren abgeschlossen war, durfte er kein Arbeitsverhältnis eingehen. So hat er freiwillig in einem Welser Altenheim mitgearbeitet, alte Menschen gepflegt und ihnen das Essen gebracht.
Darunter waren sicher auch welche, die selbst eine Fluchtgeschichte hinter sich haben. Damals, noch im zweiten Weltkrieg und kurz nach Kriegsende sind viele Flüchtlinge aus Jugoslawien und aus Siebenbürgen in Wels und Umgebung gelandet. Sie sind in dieser schweren Zeit auch nicht nur freundlich begrüßt und mit offenen Armen aufgenommen worden. Aber trotz mancher Anfangsschwierigkeit: Sie haben ganz von vorne angefangen und sich ein neues Leben aufgebaut.
Genau das will Gabriel auch. Inzwischen ist er anerkannter Flüchtling und spricht oberösterreichischen Dialekt.
In unserer Pfarrgemeinde gehört Gabriel seit einiger Zeit zu den verlässlichsten Mitarbeitern. Er hilft bei der Vorbereitung von Gemeindefesten und beim Flohmarkt. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich ihn treffe. Er hat so eine ansteckende Lebenslust und Freundlichkeit.

Ein Potenzial an Barmherzigkeit

Geschichten wie die von Gabriel gibt es sehr viele. In den christlichen Gemeinden unseres Landes engagieren sich schon lange tausende Ehrenamtliche, damit Flüchtlinge nicht nur ein Dach über dem Kopf haben, sondern auch einen Zugang zum sozialen Leben in unserer Gesellschaft.
Sprachkurse werden organisiert, medizinische Betreuung, Unterstützung bei Behördenwegen, aber auch gemeinsames Essen und Ausflüge.
Viele Pfarrgemeinden berichten davon, dass sich durch die Begegnung mit Flüchtlingen bei ihnen eine Art Aufbruchsstimmung breitmacht. Die unmittelbare Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und Religionen bringt zwar auch so manche Unsicherheit mit sich, aber sie kann auch sehr bereichernd sein, und zwar für beide Seiten.
Die Menschen, die aus den Kriegsgebieten kommen, brauchen nicht nur Hilfe. Sie können auch sehr viel geben. Sie können zeigen, was es bedeutet, in schweren Zeiten zueinander zu stehen. Sie erinnern daran, dass unsere Hochleistungsgesellschaft keinen Bestand haben kann, wenn jeder nur sich selbst der Nächste ist.
Die vielen Helfer und Helferinnen der letzten Wochen an den Bahnhöfen, in den Flüchtlingsunterkünften und an unzähligen anderen Orten haben gezeigt, dass es in Österreich ein großes Potenzial an Menschlichkeit und Barmherzigkeit gibt.

Begegnung mit Würde

Kirchen und Pfarrgemeinden sind durch ihren Auftrag und ihr Selbstverständnis Räume der Barmherzigkeit. Ein aktueller Aufruf des Vereins Evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer spricht es deutlich an: „Jeder Mensch ist Gottes Ebenbild. Jedem und jeder ist mit Würde zu begegnen. Lasst uns gemeinsam unser Möglichstes tun, den geflüchteten Menschen jene Unterkunft und Aufnahme zu geben, die Gottes Gebote erfüllen, die Würde des Menschen achten und den Kinder- und Menschenrechten entsprechen.“
Unsere evangelische Pfarrgemeinde in Wels hat beschlossen, eine Wohnung anzumieten, um einer Flüchtlingsfamilie in dieser Weise Raum zu geben. Ich weiß, das ist in der momentanen Situation nur ein kleiner Tropfen auf dem heißen Stein, aber ich kenne viele christliche Gemeinden und Initiativen, die sich zu solchen und ähnlichen Schritten entschlossen haben.
Ich bin davon überzeugt: Die Zukunft des Christentums in Europa hängt letztlich davon ab, wie ernst die Botschaft Jesu genommen wird: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Geschwistern, das habt ihr mir getan.“